TTIP: Geht es um Menschen oder um Märkte?

Mitte 2013 haben sich das Projekt Futurechallenges.org der Bertelsmann Stiftung, das Internet und Gesellschaft Collaboratory sowie das Berlin Forum on Global Politics Gedanken darüber gemacht, in welcher Weise und in welche Richtung die bis dato relativ einseitige Debatte um das Transatlantic Trade and Investment Partnership (kurz: TTIP) zwischen der EU und den USA um weitere Perspektiven ergänzt werden könnte. Ergebnis unserer Überlegungen waren ein Magazin-Sprint und ein wissenschaftlich ausgerichteter Call for Papers (CfP). „Globalisierung im Schatten der Überwachung“ lautete schließlich der Titel des Magazins. „The Transatlantic Colussus“ ist der Titel der Publikation mit internationalen Beiträgen aus dem CfP, welche sich dezidiert mit dem TTIP-Abkommen aus vielerlei verschiedenen Blickwinkeln befasst. Beide Publikationen sind unter CC-Lizenz frei verfügbar.

Dr. Ole Wintermann leitet die internationale Bloggerplattform futurechallenges.org. Außerdem ist Ole Wintermann im Internet und Gesellschaft Collaboratory sowie dem Government 2.0 Netzwerk Deutschland engagiert. Bevor 2002 bei der Bertelsmann Stiftung begann, lehrte er an der Universität Kiel und University of Göteborg und arbeite für ver.di. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Demographischer Wandel, Internet und globalen Trends. Privat bloggt er auf globaler-wandel.eu.

Dr. Ole Wintermann leitet die internationale Bloggerplattform
futurechallenges.org. Außerdem ist Ole Wintermann im Internet und Gesellschaft Collaboratory sowie dem Government 2.0 Netzwerk Deutschland engagiert. Bevor er 2002 bei der Bertelsmann Stiftung begann, lehrte er
an der Universität Kiel und University of Göteborg und arbeite für ver.di. Seine
Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Demographischer Wandel, Internet
und globalen Trends. Privat bloggt er auf globaler-wandel.eu.

Aus den Einsendungen des CfP-Verfahrens wurde sehr schnell ersichtlich, dass TTIP mehr als nur die ökonomischen Welten der Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks betrifft (abgesehen davon tangiert das Abkommen natürlich auch Menschen in Dritt-Staaten). Darüber hinaus war es auch nicht so, dass von einer einheitlichen Ablehnung des Abkommens gesprochen werden konnte. Daraus haben wir unsere ersten beiden (eigentlich ganz einfachen) Erkenntnisse abgeleitet. Erstens bringt das Bemühen, Kritiker und Befürworter an einen virtuellen runden Tisch zu setzen, eine deutliche Erweiterung des eigenen Erkenntnishorizonts mit sich. Zweitens sind nicht alle Kritiker des Abkommens zugleich Kritiker von Globalisierung oder Freihandel. Diese Erkenntnisse sind zwar simpel, deren Beherzigung scheint aber eine Herausforderung zu sein, sperrt sich doch insbesondere die Seite der institutionellen Vertreter von Politik und Interessen ganz ungemein dagegen, Kritiker in entscheidenden Runden oder Gremien zu Wort kommen zu lassen. Auch das Argument der Kritiker des Abkommens, dass die Agenda, die an die Öffentlichkeit gelange, längst vorab mit Industrievertretern abgestimmt (und damit nicht mehr offen) und eine tatsächliche Partizipation nicht gewollt sei, wird gern ohne weitere Kommentierung vom Tisch gewischt.

Von daher freut es uns natürlich, dass gerade die Publikation “The Transatlantic Colussus” verschiedene Perspektiven anbietet und so der Mainstream-Debatte einen entscheidenden Mehrwert bieten kann. Wir haben vor diesem Hintergrund vier Themen-Cluster identifiziert:

1) Partizipation: Hiermit verbunden sind die Fragen nach einer wirksamen Partizipation, der Einflussnahme der Bürger bei Themen, die deren Umwelt betreffen und nach dem Charakter der Informationspolitik der Europäischen Kommission. Bisher sei, so der Tenor der Beiträge, eine wirksame und offen gewollte Partizipation der Bürger nicht gewollt. Es verfestige sich der Eindruck, dass Information immer nur nachholende Einwegsinformation sei. Geleakte Unterlagen aus den TPP-Verhandlungen (Trans-Pacific Strategic Economic Partnership, SEP, TPFTA und P4 Agreement) sowie aus laufenden TTIP-Konsultationen, die den Bürger den Eindruck vermittle, er solle nur ruhig gestellt werden, würden dieses Kommunikationsdefizit noch weiter verstärken.

2) Konsumenten: Hier wurde gefragt, inwiefern die Nachhaltigkeit des Konsums unter den Bedingungen von TTIP verbessert werden kann, in welcher Weise TTIP geeignet sei, die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln zu garantieren, ob TTIP eventuell den Zugang zu wichtigen Medikamenten in Frage stellen könnte, ob die Konsumenten noch Souveränität über die Wahl der Qualität ihrer Nahrung hätten und wie angesichts des Umgangs der USA mit persönlichen Daten der gläserne Konsument verhindert werden könne. TTIP sei ein Konstrukt des Paradigmas des rein quantitativen Wachstums. Die mit einer Steigerung des Wachstums einhergehenden Umfänge nicht-nachhaltiger Handelsströme würden durch das Abkommen vollkommen ausgeklammert, und das im vollen Bewusstsein, dass die Erde schon jetzt längst nicht mehr nachhaltig bewirtschaftet werde.

3)  Ökonomie: Mit Blick auf ökonomische Fragestellungen wurde über die faktische Bedeutung von Zöllen als Handelshemmnisse, den zu erwartenden Arbeitsplätzezuwachs, die negativen Erfahrungen für die Verbraucher und Arbeitnehmer als Folge von NAFTA und TPP und vor allem über die staatsrechtlichen und demokratietheoretischen Folgen der ISDS-Regeln (Investor-state dispute settlement) diskutiert. Die positiven Beschäftigungszuwächse im genannten Umfang werden angezweifelt. Vielmehr müsse man die ja auch zu erwartenden negativen Beschäftigungswirkungen als Folge der Schließung nicht wettbewerbsfähiger Branchen oder Unternehmen gegenrechnen. Insbesondere die Kombination der denkbaren Auswirkungen von ISDS im Kontext von Protesten gegen das Gebahren von Monsanto offenbare dabei ein sehr großes emotionalisierbares Protestpotenzial.

4) Geopolitik: Hierbei ging es um grundsätzliche geopolitische Auswirkungen des vermeintlich ausschließlich ökonomisch zu betrachtenden TTIP-Abkommens. So werden negative wirtschaftliche Auswirkungen auf Drittmärkte in Afrika, Lateinamerika und Osteuropa erwartet. Mit Blick auf Asien und dabei insbesondere China wandeln sich diese wirtschaftlichen Drittwirkungen aber letztlich in geopolitische übergeordnete Fragestellungen. Muss oder kann TTIP nicht zwangsläufig auch durch chinesische Akteure in Wirtschaft und Politik als der US-amerikanische Versuch gewertet werden, die marktwirtschaftlichen Spielregeln der Zukunft weltweit nach US-amerikanischen Vorstellungen zu gestalten, lange bevor China selbst in der Lage ist, global Regeln substanziell mit zu beeinflussen?

Nach Lektüre der Beiträge des Sammelbandes ergibt sich eine recht klar erkennbare Dichotomie der Weltbilder, die in der Debatte aufeinander treffen:

a)    Materialismus vs. Qualitatives Wachstum

b)    Offline geprägtes Freihandelsdenken vs. Online geprägtes ganzheitliches Freihandelsbild

c)    Traditionelle elitäre Entscheidungsfindung vs. Internetbasierte OpenGov-Vorstellungen

d)    (Groß-) Unternehmen vs. Bürger und KMUs

e)    Klassischer Bilateralismus vs. Globalisierte (Online-) Welt

f)     Tradierte Politik der Stärke vs. Modernes Win-Win-Denken.

g)    Globalisierung schafft Gerechtigkeit vs. Globalisierung schafft Ungerechtigkeit

h)    Deregulierungs-Hype vs. Konsumenten orientiertes Schaffen von Spielregeln

Die Lösungsvorschläge, die sich aus unserer Analyse ergeben, sind eigentlich relativ einfach umzusetzen:

1) Neudefinition von Freihandel: Die junge Generation kann – geprägt durch eine globalisierte Online-Welt – mit dem klassischen Offline-Begriff des Freihandels nichts mehr anfangen. Nicht Gen-Mais steht bei den nachfolgenden Generationen aus der täglichen Agenda sondern der barrierefreie Zugang zu Online-Diensten und Produkten. Wie könnte ein Freihandel definiert sein, der das im Blick hat und damit die Akzeptanz des Paradigmas erhöht?

2)  Echte Transparenz: Warum sollte es geheime Dokumente innerhalb eines Prozesses geben, der am Ende den Alltag von 1-2 Mrd Menschen beeinflussen wird? Die Menschen müssen im Mittelpunkt stehen. Damit sie aber Entscheidungen treffen können und ihre Umwelt gestalten können, müssen sie ungehinderten Zugang zu den Dokumenten erhalten.

3)  Gewollte Partizipation: Liebe EU-Kommission, hab keine Angst vor deinen Bürgern. Diese Bürger wollen nicht jede einzelne Entscheidung mit beeinflussen. Keine Sorge, ihr dürft weiterhin die Entscheider sein. Nein, es geht vielmehr um die Aufnahme von Ideen, wichtigen alternativen Sichtweisen und den Hinweis auf Schwachstellen des Abkommens. Nehmt die Menschen und ihre Anliegen ernst, denn für diese Menschen soll das Abkommen doch verabschiedet werden – oder etwa nicht?

4)  Unterstützende Umfragen: Dazu gehört auch, die Menschen nach ihren Konsumpräferenzen zu fragen. Bevor den US-Unternehmen mit ihren gechlorten Hühnchen und dem Gen-Mais der Zugang zum EU-Konsumentenmarkt gestattet wird, sollte doch mal die Frage erlaubt sein, ob der europäischen Bürger in der Mehrzahl diese modifizierten Produkte überhaupt wünscht?

Warum ist es so schwierig, von Seiten der Unternehmen und Politik auf Bürger und Konsumenten zuzugehen und deren Wünsche ernst zu nehmen? Es geht bei TTIP letztlich doch eben eigentlich nicht nur um die Ökonomie sondern um kulturelle Hintergründe, um die Privatisierung von Rechtsdurchsetzung, um das Ungleichgewicht zwischen Konzernen auf der einen und demokratisch wenigstens halbwegs legitimierten Regierungen auf der anderen Seite, aber auch um den Kontext von globaler Überwachung und Datenschutz, um die Frage, ob wir ein wahrlich freies globales Internet wollen.

Aber vielleicht sind wir ganz einfach naiv. Geht es am Ende vielleicht einfach nur um eine fragwürdige Kombination von Geld, Macht und Einfluss? Wenn dem so ist, kann nur an die Akteure appelliert werden, die Verhandlungen ernsthaft zu hinterfragen, denn fehlende Legitimation kann durch kein Geld der Welt ersetzt werden.

Ich danke an dieser Stelle @mariosorg, @mvenhaus, @nk2804, @thiessP und @rebastion für die vielen hilfreichen Anmerkungen beim Verfassen des Textes.