Demokratie ist keine Handelsware: Warum das transatlantische Freihandelsabkommen der globalen Gesellschaft im Wege steht

Meine Partei, die Piratenpartei, ist als internationale politische Bewegung aus der Erfahrung entstanden, wieviel wir erreichen können, wenn wir uns vernetzen und über alle Landesgrenzen und Ozeane hinweg zusammenarbeiten. Freier, weltweiter Austausch von Wissen und Kultur ist unser Ziel.

Julia Reda ist die Spitzenkandidatin der Piratenpartei für die Europawahl.

Julia Reda ist die Spitzenkandidatin der Piratenpartei für die Europawahl.

Gleichzeitig sind wir die schärfsten Kritikerinnen des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP. Dass unser Widerstand gegen TTIP nicht dem Wunsch entspringt, uns abzuschotten, dürfte auf der Hand liegen. Im Gegenteil: TTIP könnte sich als größte Bremse für meine Generation erweisen, die Grenzen überwinden will. Wer heute wie ich als junger Mensch in die Politik geht, stellt schnell fest, dass wir uns die demokratischen Strukturen, um unsere drängendsten Probleme anzugehen, selbst erst schaffen müssen. Globalisierung ist für uns keine Hoffnung oder Bedrohung, sondern Fakt. Transnationale Unternehmen handeln auf globalen Märkten, der Klimawandel wird uns früher oder später zur internationalen Kooperation zwingen und das Internet bezieht seine Innovationskraft gerade daraus, dass es nicht an Landesgrenzen halt macht. Das einzige, was in den letzten Jahrzehnten nicht globalisiert wurde, ist die Demokratie.

 

Gerade weil globale demokratische Strukturen fehlen, verhandeln unsere Regierungen hinter verschlossenen Türen über Abkommen, die von den Parlamenten nicht mehr verändert und nur noch abgenickt werden können. Wie sehr das unseren Werten von Offenheit und Mitsprache widerspricht, die wir im Internet für uns gefunden haben, zeigte sich vor zwei Jahren, als überall auf der Welt junge Menschen im Protest gegen das Handelsabkommen ACTA auf die Straßen gingen und dieses zu Fall brachten. Die Protestbewegung gegen ACTA hatte ihre Wurzeln auf beiden Seiten des Atlantiks, aber sie blieb ein einmaliger Aufschrei gegen einen einzelnen Vertrag und löste sich nach dessen Ablehnung so schnell wieder in Luft auf, wie sie entstanden war.

 

Hier hat meine Generation bisher verpasst, den Grundstein für eine globale demokratische Öffentlichkeit zu legen, die sich nicht mit der Abwehr eines unliebsamen Abkommens begnügt, sondern eine Debatte startet, wie transnationale Demokratie im Zeitalter der Globalisierung aussehen kann. Mit der Debatte um TTIP können wir diese Chance nun endlich ergreifen – deshalb müssen wir Menschen in der EU und in den USA diese miteinander führen, nicht übereinander. Ironischerweise ist es aber TTIP selbst, das nun droht, uns der Möglichkeit transnationaler demokratischer Entscheidungen zu berauben.

 

Wir Europäischen Piraten lehnen TTIP nicht ab, weil US-amerikanische Standards beim Verbraucherschutz oder auf den Finanzmärkten grundsätzlich niedriger wären als die europäischen. Solch antiamerikanischen Vorurteilen treten wir entgegen. Verbraucherschutzorganisationen auf beiden Seiten des Atlantiks haben gute Gründe, gegen TTIP mobil zu machen, weil die gegenseitige Anerkennung von unterschiedlichen Standards ohne gemeinsame demokratische Institutionen unweigerlich dazu führt, dass unsere Demokratien anfangen werden zu versuchen, die Standards der anderen Seite zu unterbieten, um den heimischen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil auf dem transatlantischen Markt zu verschaffen. Zu einer echten Harmonisierung der Standards, die einen solch schädlichen Wettbewerb verhindern könnte, wird es gleichwohl nicht kommen. Denn die direkten demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Menschen fehlen, die eine solche Einigung auf gemeinsame Standards legitimieren könnten. Damit die Menschen in Europa und in den USA Teil einer globalen Gesellschaft werden, brauchen wir transatlantische Solidarität und eine demokratische Öffentlichkeit, nicht bloßen Wettbewerb unserer Märkte.

 

Aber auch innerhalb der Europäischen Union droht TTIP zu verhindern, dass wir die transnationale Demokratie, die notwendige Konsequenz der Globalisierung, vorantreiben können. Unser Ziel ist ein europäischer Bundesstaat mit einem starken europäischen Parlament als Gesetzgeber. TTIP würde die Position des Europäischen Parlaments aber sogar schwächen. Aus den Geheimverhandlungen von TTIP ist an die Öffentlichkeit gedrungen, dass ein System der regulatorischen Kooperation geplant ist, das Unternehmen privilegierten Zugang zur Europäischen Kommission verschaffen und den Handlungsspielraum des Parlaments einschränken würde. Jedes Mal, wenn die Kommission eine neue Initiative zum Verbraucherschutz, zum Umweltschutz, zum Datenschutz auf den Weg bringen würde, müsste sie mittels eines Frühwarnsystems betroffene Unternehmen von ihrem Vorhaben informieren, deren Stellungnahmen einholen und mögliche Auswirkungen auf den transatlantischen Handel untersuchen. Unternehmen hätten hier die Möglichkeit, ihnen unliebsame Regulierungen auf unbestimmte Zeit zu verzögern und womöglich sogar durch ökonomischen Druck vollständig zu verhindern. Eine demokratische Kontrolle dieses Lobbyismus würde entfallen, weil er zu einem Zeitpunkt stattfindet, bevor eine Initiative der Kommission überhaupt das Europäische Parlament erreicht und damit auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

 

Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen, wie Unternehmen diesen privilegierten Zugang zur Gesetzgebung missbrauchen könnten, um zukünftige höhere Schutzstandards schon im Entwurfsstadium zu verhindern. Fatal wird dieser Umstand in Verbindung mit der Tatsache, dass das Europäische Parlament selbst kein Initiativrecht besitzt und nicht ohne die Europäische Kommission gesetzgeberisch tätig werden kann. Sollte TTIP gleichzeitig noch Regelungen zum Investorenschutz enthalten, die es Unternehmen erlauben, den Gesetzgeber auf entgangene Gewinne zu verklagen, wäre ihnen ein weiteres Mittel an die Hand gegeben, die Kommission als Initiatorin neuer Regulierungen unter Druck zu setzen.

 

Wir müssen TTIP also verhindern, um den Gestaltungsspielraum der transnationalen parlamentarischen Demokratie in Europa zu erhalten. Wenn die Europäische Union die Interessen der Allgemeinheit nicht mehr gegen Unternehmen durchsetzen kann, schwindet ihre Akzeptanz in der Bevölkerung und der Rückzug in nationale Abschottung ist die wahrscheinlich Folge. Diesem Trend müssen wir entschieden entgegentreten, wenn uns die Verständigung über Grenzen hinweg am Herzen liegt. Stattdessen müssen wir verbindliche Transparenz- und Beteiligungsstandards für internationale Abkommen schaffen, damit die Exekutiven parlamentarische Gestaltungsspielräume nicht zur Verhandlungsmasse machen können. Demokratie ist keine Handelsware.

 

Die Verhandlungsparteien dürfen nicht dem Irrglauben aufsitzen, dass die TTIP-Verhandlungen gerettet werden müssten, nur weil bereits so viel Energie in dieses Projekt geflossen ist. Wenn wir TTIP ablehnen, können wir die Erfahrung dieses Scheiterns als Grundlage nehmen für eine echte grenzübergreifende Debatte über unsere transatlantischen Beziehungen, die die Bevölkerung und die Parlamente mit einbezieht. Die Herausforderungen der Globalisierung sind nur gemeinsam zu lösen und die Zivilgesellschaft, die im Widerstand gegen TTIP den Schulterschluss wagt, kann den Anstoß geben für eine weltweite demokratische Öffentlichkeit.