Von den Startproblemen beim Aufbau eines Nachrichtendienstes und dem Beginn der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft
Nach vier Jahren intensiver Quellenrecherche legen die Historiker Constantin Goschler und Michael Wala ihre Forschungsergebnisse zur Organisationsgeschichte des deutschen Inlandsnachrichtendienstes als Buch vor.
(von Tim Segler) – Es war im November 2011 als die rechtsextreme Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) die Öffentlichkeit erschütterte. Niemand konnte sich bis zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass eine bundesweit mehr als zehn Jahre andauernde Tötungsserie an überwiegend türkischen Geschäftsleuten das Ergebnis der Taten von Rechtsterroristen ist. Die deutschen Sicherheitsbehörden sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, auf dem „rechten Auge blind“ zu sein. Fortan stand das Bundesamt für Verfassungsschutz im doppelten Sinne unter kritischen Beobachtung: Erstens von Politik und Medien angesichts der NSU-Enthüllungen sowie zweitens durch die Historiker Constanton Goschler und Michael Wala wegen seiner wechselvollen Gründungsgeschichte in der jungen Bundesrepublik Deutschland.
Unter dem Titel „Keine neue Gestapo“ beleuchten beide Autoren die Anfänge des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit dem Fokus auf die NS-Belastung des Amtes durch ehemaliger Mitarbeiter. In vier Abschnitten wird der schleppende Entstehungsprozess, die schwierige Suche nach geeignetem und möglichst „unbelasteten“ Personal, die zunächst ungewisse Stellung der Behörde zwischen Strafverfolgung und Inlandsaufklärung, Krisen in der Amtsführung sowie Skandale und organisatorische Wandlungen bis zum Jahr 1975 geschildert. Die Untersuchung schließt mit einer Kurzzusammenfassung der Gründungszeit, die die Entwicklung des Bundesamtes als heutigen Bestandteil der bundesdeutschen Sicherheitsarchitektur charakterisiert. Das Buch steht damit in einer Reihe mit bisherigen Studien beauftragter Historikerkommissionen über die NS-Belastung deutscher Behörden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Oktober 2010 erregte das Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ über die systematische Verstrickung des Auswärtigen Amtes in die Gewalt- und Vernichtungspolitik des Dritten Reiches großes Aufsehen. Besonders pikant war die Erkenntnis, dass Kriegsverbrecher nach dem Ende Hitler-Deutschlands zielgerichtet vor Strafverfolgung geschützt wurden und NS-belastete Mitarbeiter in Größenordnungen bis weit in der Nachkriegszeit die Geschicke des Amtes mitbestimmen konnten. Auch die NS-Belastung in der Frühgeschichte des Bundeskriminalamts (BKA) wurde Ende 2011 in der Studie „Schatten der Vergangenheit“ thematisiert. Die erschreckende Bilanz: Nahezu zwei Drittel des BKA-Führungspersonals setzte sich 1959 aus ehemaligen SS-Mitgliedern zusammen und drei Viertel der Leitungsebene bestanden aus NSDAP-Mitgliedern.
Der Ausgangspunkt des Buches ist die Gründung der BRD. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden unter dem Einfluss der alliierten Siegermächte die Staats- und Verwaltungsstrukturen der heutigen Bundesrepublik umgebaut. Unter dem Eindruck der Gräueltaten des Dritten Reichs stellte der Aufbau effizienter und vertrauenswürdiger Sicherheitsbehörden eine besondere Herausforderung dar. Es galt das Entstehen einer „neuen Gestapo“, die als politische Polizei mit umfassenden Macht- und Eingriffsbefugnissen das Leben der Bürger einschränken kann, um jeden Preis zu verhindern. Das Ergebnis war ein Inlandsnachrichtendienst, angesiedelt zwischen der Vorfeldaufklärung „umstürzlerischer“ Aktivitäten und dem Bereich der Strafverfolgung. Ein neues Handlungsprinzip, das willkürliche Verhaftungen und staatliche Verfolgung möglichst ausschließt, soll nach dem Willen der Alliierten die Arbeit der Sicherheitsbehörden zukünftig bestimmen – das Trennungsgebot. Die Aufgaben einer Polizei mit exekutiven Handlungsbefugnissen bis zur Beschlagnahmung oder Festnahme und eines Nachrichtendienstes mit verdeckten Aufklärungsmethoden werden getrennten Behörden übertragen. Der „Verfassungsschutz“ als eine Erfindung der amerikanischen Besatzungsmacht war geboren. Bereits bei der Wahl des Namens des Bundesamtes als „harmloser, nichtssagender Bezeichnung“ zeichnen die Autoren die Motive der alliierten Hohen Kommissare und der Adenauer-Regierung für den Aufbau dezentraler Nachrichtendienste zur „Sammlung von Informationen über subversive Aktivitäten“ verständlich nach. Akribisch wird überhaupt die kritische Phase der Gründung im November 1950 bis zum Einzug der ersten Mitarbeiter im Bundesamt nacherzählt. Die weitreichenden Vorbehaltsrechte der alliierten Besatzungsmächte, die bis zu einem Vetorecht bei der Personalauswahl reichte, werden ebenso nachgezeichnet wie die ambivalente Rolle der Organisation Gehlen. Die Autoren verstehen es, dieses Rollenspiel der Vorläuferorganisation des späteren BND als Tarnorganisation der CIA zum Ausforschen des Verfassungsschutzes sowie taktisch agierenden Konkurrenzdienst im anschließenden Kampf um Aufgaben und Befugnisse aufzuzeigen. So schleuste Gehlen nicht nur unter falschen Pseudonymen seine Verbindungspersonen als Mitarbeiter im Verfassungsschutz ein, sondern erhielt Aufträge aus der Hand von Adenauers selbst NS-belasteten Staatssekretärs im Bundeskanzleramt Hans Globke. Dagegen musste der Verfassungsschutz seine Rolle noch finden und fristete zunächst ein Schattendasein. Im letzten Punkt lag schließlich der vorläufige Bedeutungsvorsprung des BND zum Verfassungsschutz, der mit dem erfahrenen Nachrichtendienstmann und ehemaligen Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost, Reinhard Gehlen, eine fähigere Amtsführung prägte. Beim Verfassungsschutz fiel die Wahl für die Behördenleitung auf den unerfahrenen Jurist Otto John. Als Kandidat „nicht einmal zweiter, sondern neunter Wahl“ manövrierte er das Bundesamt 1954 mit seinem mysteriösen Verschwinden in die DDR in den schwersten Spionageskandal der noch jungen Bundesrepublik. In der Fehlbesetzung des Präsidenten Otto John und der unter alliierter Aufsicht tolerierten Rekrutierung ehemaliger Mitarbeiter von SD, SS und Gestapo als „freie Mitarbeiter“, die bis in die 60er Jahre auch Schlüsselpositionen übernahmen, sehen die Autoren die Ursachen für das erste Scheitern des Verfassungsschutzes in der Anfangszeit. Von den brisanten Enthüllungen der Studien über das Auswärtige Amt oder das BKA ist das Buch in seinen Forschungsergebnissen zum Verfassungsschutz jedoch überraschend weit entfernt. Der Verfassungsschutz war weder zum Zeitpunkt seines Entstehens noch seiner Umorganisation systematisch von NS-Kadern durchsetzt worden. Interessanter ist für den Leser zu erfahren, weshalb auch beim Aufbau des Inlandsnachrichtendienstes bewusst auf belastete Kräfte zurückgegriffen wurde. Verstörend wirkt, dass das unter alliierter Aufsicht stehende Bundesamt bis in die 60er Jahre in Wahrheit aus zwei Nebenämtern bestand: Einem festen Mitarbeiterstab sowie einer Reihe NS-belasteter „freier Mitarbeiter“. Wie weit die Handlungsfreiheit dieses Personenkreises bei der Feindaufklärung oder dem Abhören von Demokratiefeinden ging, beleuchten die Autoren an mehreren Fällen. Dem spektakulärsten Fall der Abhöraffäre von 1963 wird ein ganzer Abschnitt gewidmet.
Der ehemalige Verfassungsschützer Werner Pätsch machte mithilfe des Rechtsanwalts Josef Augstein, dem älteren Bruder des SPIEGEL-Verlegers Rudolf Augstein, das ganze Ausmaß der illegalen Ausspähungsaktionen an Bundesbürgern öffentlich. Am Beispiel des ehemaligen SS-Hauptsturmführers und zur Zeit der Affäre einflussreichen Gruppenleiters beim Verfassungsschutz, Erich Wenger, wird der Einfluss belasteter Mitarbeiter deutlich. Auch der Fall des ehemaligen Spionageabwehrchefs Richard Gerken verdeutlicht die möglichen Karrierewege erfahrener Nachrichtendienstoffiziere des Dritten Reichs zum Beginn der Bundesrepublik. Gerken verwaltete nicht nur sechsstellige Beträge der „Titelgruppe 300“ für die Spionageabwehr, sondern baute sich im Bundesamt eine fast unantastbare Machtposition als Abteilungsleiter mit persönlichen Abhängigkeiten von Untergebenen, auch „freien Mitarbeitern“ auf. Nach der Abhöraffäre war der Höhepunkt des Einflusses ehemaliger SS-, SD- oder Gestapo-Mitarbeiter im Bundesamt erreicht. Die Autoren zeichnen wieder zum Verblüffen des Lesers nach, wie schnell die Selbstreinigungskräfte der jungen Demokratie nach der Affäre mit dem Abzug NS-belasteter Mitarbeiter aus dem Verfassungsschutz wirkten als bei anderen deutschen Sicherheitsbehörden. Überraschend fallen diese Wendungen nach erneut kritischen Skandalen auch durch die spannende und bildhafte Erzählweise des Buches aus. Insgesamt erlaubt sich die Studie keine methodischen Mängel wie „Das Amt und die Vergangenheit“ durch pauschale Wertungen oder einseitige Diffamierungen von Personen, Handlungen oder Verhaltensweisen. Die historischen Entwicklung sowie die Aktionen handelnder Personen werden stets im jeweils sachlichen Kontext der Zeit betrachtet und zum Heute kritisch reflektierend wiedergegeben. Es werden in angemessener, moralisch-zurückhaltender Weise Argumentationen und damalige Rechtfertigungen für Entscheidungen oder Handlungen gegenübergestellt. Der Leser kann sich durch den nachvollziehbaren Erzählstil ein eigenes Bild der Zustände im Bundesamt für Verfassungsschutz machen.
Die folgende Bewährungszeit des Bundesamtes bis 1975 liest sich dagegen wie eine etwas oberflächlich wirkende Geschichtseinordnung von Pleiten, Pech und Pannen. Die nach den NS-Enthüllungen fortsetzende Skandalserie, insbesondere eine Schlägerei von Verfassungsschützern in der Hamburger Ahoi-Bar, öffentliche Diskussionen über die rechtsstaatliche und moralische Legitimation des Verfassungsschutzes oder die im Amt verbliebene NS-Schergen wirken etwas künstlich gestreut. Die Autoren weichen im letzten Drittel des Buches von ihrem akribisch-anschaulichen Erzählstil zugunsten einer künstlich wirkenden Aufzählung sogenannter Geheimdienstskandale sowie mehr oder weniger relevanten Folgeentwicklungen ab. Eine gewisse Beliebigkeit in der Darstellung kann hier nicht abgestritten werden. Beispielhaft sei erwähnt, wenn zur Zeit der eingesetzten „freien Mitarbeiter“ bis zu deren Integration in das Amt zwischen Skandalen noch einige Erfolge erkennbar waren und in der Folgeentwicklung nennenswerte Aufklärungserfolge nicht vertieft werden. Besonders die Ausrichtung des Bundesamtes auf die neue Bedrohung der Bundesrepublik durch die RAF oder vergleichbar linksextremistische Gruppierungen, denen mit Radikalenerlass oder Gesetzesverschärfungen begegnet werden sollte, fällt viel zu kurz aus und hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck.
Alles in allem haben die Historiker Constantin Goschler und Michael Wala ihre Forschungen zur Frühgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit einer interessanten und in den Schlussfolgerungen teilweise überraschenden Geschichtsstudie abgeschlossen. Das Werk besticht in seiner Schwerpunktthematik der Beschäftigung ehemaliger Mitarbeiter von NS-Sicherheitsorganen durch eine akribische und spannende Erzählweise sowie logisch-nachvollziehbare Argumentationsstruktur. Der sehr gute Gesamteindruck wird jedoch durch das etwas oberflächlich wirkende Skandalkapitel in der Transformationszeit des Amtes getrübt. Für jeden geschichtsinteressierten Leser lohnt sich jedoch die sehr zugängliche Lektüre allemal!