Die aktuelle Flüchtlingssituation bietet den Vereinigten Staaten die Möglichkeit, ihre traditionellen Werte zu vertreten, die transatlantische Partnerschaft zu festigen und diplomatische Spannungen in Vorderasien zu lösen. Mit der Aufnahme von zehntausend Menschen kommt das Land klar – und wird, wie schon zuvor, von seinen Gästen profitieren. – meint Lukas Posch, Mitglied der Initiative junger Transatlantiker
(By Lukas Posch) – Jede humanitäre Krise fand mittels eines Bildes den Eingang in das kollektive Gedächtnis von Kulturen. Das vietnamesische Kind mit schweren Verbrennungen, eine somalische Mutter, die ihr an Unterernährung verstorbenes Kind in den Händen hält und nun ein syrisches Kind, das bei dem Versuch, über den Seeweg den sicheren Hafen Europa zu erreichen, starb und an einen Strand gespült wurde. Mit der Verbreitung eines solchen Bildes geht einher, dass nicht nur die ursprünglich Betroffenen einem Thema Bedeutung beimessen, sondern dass es weitere Wellen schlägt.
So verwundert es nicht, dass es eines solchen Fotos bedurfte, bis der Lage der Menschen in den syrischen Kriegsgebieten im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf Bedeutung beigemessen wurde. Doch während der Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, von zumindest 10.000 aufzunehmenden syrischen Flüchtlingen spricht und auch Donald Trump angesichts des „unglaublichen humanitären Problems“ von der Notwendigkeit einer Aufnahme spricht, melden sich auch Stimmen, die eine solche Notwendigkeit nicht sehen – denn auch wenn die Lage so schlecht sei, seien es eben nicht die Vereinigten Staaten, die für die Aufnahme der Flüchtlinge verantwortlich seien.
Tatsächlich scheint es, als sei auf beiden Seiten des Atlantiks zuhauf der Eindruck vorhanden, dass die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien an mehreren Punkten scheitert. Neben der Skepsis gegenüber sozialer Verkraftbarkeit sind es oftmals Bedenken hinsichtlich möglicher Sicherheitsrisiken, die von Gegnern angeführt werden. Zudem würden diese Menschen nicht hierhin passen – und allem voran ist selbstverständlich der jeweils andere transatlantische Partner verantwortlich für die Beherbergung dieser Menschen. Einer realistischen Betrachtung halten diese Behauptungen nicht stand. Vielmehr handelt es sich insbesondere für die Vereinigten Staaten um eine große Chance, die mit dieser Situation einhergeht – die Chance auf eine Besserung der angespannten diplomatischen Beziehungen zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. In Zeiten, in denen das Außenministerium der Vereinigten Staaten auf eine vielfach belächelte Twitter-Kampagne zurückgreift, um Diplomatie zu betreiben, ist es weise, eine solche Möglichkeit nicht verstreichen zu lassen.
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich bewegt, wer den Vereinigten Staaten eine Verantwortung zur Aufnahme von Flüchtlingen zusprechen möchte. Denjenigen, die den Schritt dennoch wagen, wird von mancher Seite nachgesagt, dass sie die Geschichte US-amerikanischer Interventionen im Mittleren Osten in den letzten Jahren falsch auslegen würden und dass sie sich mit diesen Ansichten antiamerikanisch verhielten. Doch abseits dieser von mir nicht zu entscheidenden Frage gibt es einen guten Grund für die Vereinigten Staaten, hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen mit genau dem Beispiel voranzugehen, welches viele Kongressabgeordnete von anderen Staaten ebenso einfordern: Das heutige Staatsvolk der Vereinigten Staaten besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Nachfahren von Millionen von Menschen, die auf der Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung ihren Weg in dieses Land gefunden haben, das für sie nicht bloß ein Gebiet, sondern auch einen unumstößlichen Gedanken an diese Freiheit darstellte. Einer Nation, aus Flüchtlingen entstanden, wird sich keine bessere Gelegenheit ergeben, ihre über Jahrhunderte verfolgte Mission der Verbreitung von Demokratie und Freiheit des Einzelnen zu verwirklichen.
Was aber führt abgesehen von der Möglichkeit der Vereinigten Staaten, ihrer Außenpolitik und ihrer Gesamtwirkung im Ausland einen positiven Schub zu verpassen, noch zur Gebotenheit der Aufnahme syrischer Flüchtlinge? Einerseits ist eine völlige Unbefangenheit angesichts der Worte des Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht gegeben – hier sei an die Worte „Assad must step down“ aus dem Jahr 2011 erinnert – und andererseits scheint eine Kurskorrektur nach Hillary Clintons Ausspruch „There’s a different leader in Syria now.“, ebenso aus dem Jahr 2011, nach Taten zu rufen.
Eines der größeren Argumente für die Aufnahme von Flüchtlingen vermag auch in der traditionell eingenommenen Führungsrolle der Vereinigten Staaten liegen. Die Nation, die über ein halbes Jahrhundert die Schutzmacht der von ihr vertretenen Grundwerte auf jedem beliebigen Punkt auf der Erde war, sehnt sich möglicherweise danach, in bestimmten Bereichen internationaler Diplomatie mehr Entlastung durch andere Staaten des westlichen Kulturkreises zu erfahren. Doch ungeachtet der Leistungsfähigkeit ihrer Partner jenseits des Atlantiks waren die Vereinigten Staaten bis zum heutigen Tag stets zur Stelle, wenn es der Bewältigung eines Problems galt, zu dessen Lösung ihre Partner nicht in der Lage waren. Aus jeder dieser Situationen, in denen die Vereinigten Staaten sich zur Aufnahme von Flüchtlingen entschlossen, gingen sie gestärkt heraus. Ob deutsche, osteuropäische, lateinamerikanische oder asiatische Verfolgte – ihre Integration gelang. Und auch heute lassen sich die jährlich 70.000 Flüchtlinge, welche die Vereinigten Staaten aufnehmen, integrieren. Zum Vergleich: 1992 nahmen die Vereinigten Staaten annähernd die doppelte Anzahl Flüchtlinge auf.
Auf den Punkt gebracht spreche ich nicht von der Pflicht, sondern von der Gebotenheit der Aufnahme von Menschen, die sich zumindest für die Dauer des fortschreitenden Konflikts nach einem Leben in einem Land sehnen, in welchem die Grundwerte des Westens gelebt werden. Bereits in den unzähligen gleichartigen Situationen zuvor gelang es den Vereinigten Staaten, einer für viele Menschen als Bürde empfundenen Entwicklung einen positiven Anstoß zu geben und sie in ein Geschenk für das Land zu verwandeln. Die Zahl 10.000, die Barack Obama nannte, ist erfüllbar – und das ohne die Veränderung der rechtlichen Ausgangssituation. Aktuell befinden sich wohl weniger als 1.000 syrische Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten. Ein Bekenntnis zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge würde nicht zuletzt denjenigen Menschen Europas, die den Vereinigten Staaten und ihrer Außenpolitik skeptisch gegenüberstehen, zeigen, dass unsere transatlantischen Partner sich der angespannten Lage in der Europäischen Union bewusst sind.
Mit einer solchen Handlung gelänge es den Vereinigten Staaten nicht nur, menschliches Leid zu lindern, sondern auch, diplomatische Spannungen zu lösen und neue Möglichkeiten zu erschließen. Wie die Inschrift der Freiheitsstatue, die mit ihrer Fackel das Dunkel von der Welt zu schaffen sucht:
“Give me your tired, your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free,
The wretched refuse of your teeming shore.
Send these, the homeless, tempest-tost to me,
I lift my lamp beside the golden door!”
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Quellen:
- http://www.cnn.com/2015/09/08/politics/donald-trump-kim-davis-syrian-refugees/
- http://time.com/3387065/isis-twitter-war-state-department/
- http://foreignpolicy.com/2015/09/11/how-can-america-be-great-if-we-dont-open-our-doors-syria-refugees-republican-party/
- https://www.washingtonpost.com/blogs/checkpoint-washington/post/obama-syrian-president-assad-must-step-down/2011/08/18/gIQAM75UNJ_blog.html
- http://www.washingtonpost.com/blogs/fact-checker/post/hillary-clintons-uncredible-statement-on-syria/2011/04/01/AFWPEYaC_blog.html
- http://www.npr.org/sections/parallels/2015/06/16/414898818/of-4-million-syrian-refugees-the-u-s-has-taken-fewer-than-1-000