Dieser Aufsatz von Tim Segler spiegelt nicht die Meinung der Initiative junger Transatlantiker wider. Anmerkungen an den Autor können gerne per Mail an info@junge-transatlantiker.de gestellt werden.
Die EU als Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird stark an Einfluss und Sachverstand verlieren.
In sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen war Großbritannien schon immer einflussreicher, erfahrener und unabhängiger als die EU insgesamt. Besonders in Militär-, Polizei- und Nachrichtendienstfragen sind die Briten tonangebender und für die EU ein unverzichtbarer Partner. Der Sachverstand und die Fähigkeiten Großbritanniens sind vielfach ausgeprägter. Großbritannien ist eines der fünf ständigen Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat, einer der größten Truppensteller bei NATO-Einsätzen, Atommacht und Mitbegründer des weltweit größten Nachrichtendienstbündnisses der sogenannten „Five-Eyes-Staaten“ (UKUSA-Vereinbarung). Im Ergebnis sind die EU-Mitgliedsstaaten sicherheitspolitisch viel stärker auf Großbritannien angewiesen als umgekehrt.
Die richtige Antwort aus Brüssel wäre eine engere gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Langfristig würde die EU sicherheitspolitisch kleinere Brötchen backen, wenn sie den Verlust Großbritanniens nicht interessens- und geopolitisch ausgleichen kann. Die richtige Antwort aus Brüssel kann nur in einer Vertiefung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegen. Vorhaben wie eine europäische Armee, der Schutz von Außengrenzen, ein EU-Terrorabwehrzentrum, ein gemeinsamer europäischer Nachrichtendienst könnten nach der Brexit-Diskussion an Auftrieb gewinnen. In diesen Punkten einen gemeinsamen Konsens ohne einen nationalstaatlichen Identitätsverlust in einem der wichtigsten Kernbereiche von eigner Souveränität zu erleiden wird die Herausforderung werden.
Die eurotransatlantische Sicherheitspartnerschaft wird keinen Schaden nehmen.
In Sicherheits- und Verteidigungsfragen stellt für Großbritannien der Einfluss in der NATO und die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit eine sicherheitspolitische Rückversicherung dar. Der enge Schulterschluss zwischen den USA, Großbritannien und Frankreich als Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die die heutigen internationalen Sicherheitsstrukturen während des Kalten Krieges formten wird ohne Einschränkungen fortbestehen. Großbritannien wird jedoch mit der EU ein hörbares Sprachrohr der Weltgemeinschaft in sicherheitspolitischen Fragen verlieren und muss seine Strategie und Interessenspositionen eigenständiger formulieren.
Auf die Zusammenarbeit der europäischen Nachrichtendienste hat ein Brexit keinen Einfluss.
Die europäischen Nachrichtendienste sind informell und lose in der CTG-Gruppe (Counter Terrorism Group) in Den Haag organisiert. Die politischen Konsultationen der Nachrichten- und Staatsschutzdienste haben sich unabhängig von der europapolitischen Integration nach der weltweit wachsenden Terrorbedrohung verdichtet. Sicherheitspolitische Zusammenarbeit war und ist seit jeher das Interessensfeld hoher internationaler Übereinstimmung.
Der Zugang zu verlässlichen Polizeiinformationen wird für alle Mitgliedsstaaten erschwert.
In der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalitätsbekämpfung, der Strafverfolgung und dem Informationsaustausch der nationalen Polizeibehörden arbeiten die EU-Mitgliedsstaaten routiniert und erfolgreich zusammen. Ausdruck der engen Zusammenarbeit sind die gemeinsame Polizeibehörde Europol, die vom erfahrenen britischen Kriminalisten Rob Wainwright geleitet wird, der Europäische Haftbefehl sowie zahlreiche Polizei- und Strafverfolgungsabkommen. Auch wenn die Quantität der aus Großbritannien gelieferten polizeilichen Erkenntnisse zeitweise verbesserungswürdig erscheint, besteht an deren Verwertungsqualität für Polizeidatenbanken oder europaweite Ermittlungen kein Zweifel. Der mit dem Brexit entstehende Informationsverlust wird gravierend ausfallen und die Einsatzfähigkeit europäischer Polizeibehörden insgesamt schwächen. Bilaterale Datenaustauschabkommen müssen hier Ausgleich schaffen.
Wie die EU mit Großbritannien während der Brexit-Verhandlungen verfährt, wird den zukünftigen Ton in der wechselseitigen Sicherheitspartnerschaft bestimmen.
Bundeskanzlerin Merkel und der NATO-Generalsekretär Stoltenberg mahnten nach dem Ausgang des Brexit-Referendums eine schonende Auseinandersetzung mit Großbritannien schon aus Gründen der internationalen Sicherheit an. Wie fair, hart oder milde die EU nun Austrittsverhandlungen und Nachfolgeabkommen vereinbart, wird Großbritannien entscheidend in seinem Pragmatismus gegenüber dem europäischen Festland prägen. Eine sachlich nüchterne und weniger emotional beeinflusste Abwicklung der EU-Mitgliedschaft schafft das Fundament einer weiterhin erfolgreichen Zusammenarbeit. Einbußen in der Sicherheitspartnerschaft könnten so am wahrscheinlichsten vermieden werden.
Frankreich wird neben Deutschland eine Sonderrolle als sicherheitspolitischer Akteur einnehmen.
Frankreich als einzig verbliebenem Mitglied in der EU, das über einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat verfügt und erheblich NATO-Einsatzressourcen trägt, wird den militärstrategischen Sachverstand der NATO ausmachen. In der nachrichten- und geheimdienstlichen Aufklärung muss Frankreich als einer der primären Five-Eyes-Staaten die Fähigkeiten Großbritanniens zusammen mit Deutschland als Sekundärpartner ersetzen. Beide Staaten werden als „sicherheitspolitischer Motor“ einen Löwenanteil der EU-Interessen tragen und in die Mechanismen der Weltgemeinschaft einbringen müssen.
Der Druck auf Deutschland mehr sicherheits- und verteidigungspolitische Verantwortung in der Welt zu übernehmen, wird steigen.
Der Verlust Großbritanniens wird automatisch zu steigenden Erwartungen der USA, Frankreich und der EU-Mitgliedsstaaten nach einem „Mehr“ an internationalem Engagement Deutschlands führen. Inwiefern Deutschland diese Rolle annimmt bestimmt entscheidend den militär- und verteidigungspolitischen Einfluss der EU im internationalen Konzert der Mächte. Es ist davon auszugehen, dass Frankreich als dann stärkste Militärmacht unter den EU-Mitgliedsstaaten quantitativ und qualitativ erkennbare Aufrüstungsbemühungen für die Bundeswehr einfordern wird. Ebenso wird im Bereich der nachrichtendienstlichen Fähigkeiten Deutschlands ein „Nachbessern“ angemahnt werden.
Die mögliche Wahl eines U.S.-Präsidenten Donald Trump wird weitreichendere sicherheitspolitische Auswirkungen auf das transatlantische Bündnis entfalten.
Im Vergleich zum Brexit eignet sich die Wahl des designierten Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Donald Trump eher für Spekulationen um die sicherheitspolitische Zukunft Europas oder Deutschlands. In seiner außenpolitischen Grundsatzrede vom 27. April 2016 relativiert Trump einerseits das Verhältnis der USA zur NATO, lobt die Führungsqualitäten des russischen Präsidenten Wladimir Putin oder betont die Interessen der USA als unbedingte Staatsräson vor weiterem sicherheitspolitischen Engagement in Europa oder Asien. Anderseits gab Trump ein Bekenntnis zu den bestehenden Bündnisverplichtungen der USA ab, betont die Notwendigkeit einer militärischen Stabilisierungs- und Eindämmungspolitik anstatt weiterer Interventionen und möchte die Anstrengungen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus verstärken. Im Ergebnis bleiben die konkreten Absichten des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump jedoch unkonkret und widersprüchlich. Zwar ist ein gewisser Pragmatismus erkennbar, jedoch bleibt offen wie sich die USA zur Frage werte- und interessensorientierter Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln würden.
Der mit dem Brexit einhergehende Verlust von sicherheitspolitischen Fähigkeiten ist ausgleichbar und bietet die Chance für einen umfassenderen Sicherheitsansatz.
Obwohl kurzfristig mit Informationsdefiziten und Wissensverlust im militärischen oder polizeilichen EU-Sicherheitsverbund zu rechnen ist, können mittelfristig neue Kapazitäten aufgebaut werden. Alle EU-Mitgliedsstaaten müssten sich dazu in Fragen innerer und äußerer Sicherheit intensiver und enger abstimmen, umfassender in Strukturen und Datenaustausch investieren und neue Institutionen mit Sicherheitsauftrag gründen. Eine ausbleibende Mitbestimmung Großbritanniens könnte weitreichendere politische Vorhaben wie eine erweiterte polizeiliche Zusammenarbeit oder verbindlichere Regeln zum gegenseitigen Datenaustauschs eher verwirklichen, die bisher an einem britischen Veto gescheitert sind. Im Ergebnis sind die Auswirkungen eines Brexit sicherheitspolitisch bedauerlich, jedoch verkraftbar.