Am 4. April begeht die NATO ihr 70. Gründungsjubiläum in Washington – und Deutschland wartet mit einem ernüchternden Geschenk auf. Vielleicht werden 1,5% des BIP bis 2024 für die gemeinsame Verteidigung aufgewendet werden, nachdem Jahre zuvor ein Versprechen abgegeben wurde, nach welchem man im Jahr 2024 2,0% des BIP aufwenden würde. Tatsächlich fand man sich schon im letzten Jahr in dieser Situation wieder, als man das eklatante Verfehlen der eigenen Zusagen aus dem Jahr 2014 als massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben bezeichnete. Das scheint doch alles zu sagen?
Leider nicht, denn während das 70. NATO-Jubiläum gefeiert wird, wird Deutschland seine Zusagen weiter herunterschrauben. Im Jahr 2023 sollen so 1,25% des BIP für die Landes- und Bündnisverteidigung herangezogen werden. Fehlt es Deutschland schlichtweg an Mitteln? Selbstverständlich nicht – und aus diesem Grund erhöht der Bund sein Budget um 1,7% auf Gesamtausgaben von 356,4 Milliarden Euro. Ein großer Teil der deutschen Bundesregierung ist ungeachtet der Fähigkeit dazu nicht willens, einen angemessenen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung aufzuwenden.
Bei einer an Fakten orientierten Betrachtung wird deutlich, dass beträchtliche Teile der deutschen Öffentlichkeit sich um dieses Thema schlichtweg nicht kümmern möchten. Schützenhilfe erhalten sie dabei von sich im Ton vergreifenden Politikern und Zeitschriften, denen zunehmend eine nicht bloß amerikakritische, sondern antiamerikanische Blattlinie nachgesagt wird. In ihrer lautstarken Kritik am Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland, vergessen sie, dass Botschafter Grenell genau dasselbe feststellt wie der Wehrbeauftragte des Bundestags: Deutschlands Wehretat ist unzureichend. Unsere transatlantischen Partner können auf Deutschland in dieser Hinsicht genauso wenig zählen wie die europäischen Verbündeten.
Auch EU-Zusagen werden nicht eingehalten
Eine wachsende Anzahl Deutscher mag nun meinen, dass man “sich von den US-Amerikanern nicht zu erhöhten Verteidigungsausgaben drängen lassen solle”. Vielmehr wurde das NATO-Versprechen den europäischen Staaten gegenüber genauso abgegeben – in diesem Fall im Rahmen von Art. 42 EU-Vertrag:
“Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.”
So einfach ist das. Traditionell wird die gemeinsame Verteidigung im Rahmen der NATO-Strukturen koordiniert. Und während selbst der EUV darauf hinweist, dass es sich bei der NATO um die Organisation handelt, in der Mitgliedstaaten ihre gemeinsame Verteidigung verwirklicht sehen, sollten diejenigen, die Botschafter Grenell für seine Aussagen kritisieren, feststellen, dass es jedwedem Bestreben, die europäische Kooperation zu vertiefen, an Glaubwürdigkeit mangelt, solange Deutschland diese Zusammenarbeit im militärischen Bereich vernachlässigt.
Dies anders zu sehen hieße, die deutsche EU-Mitgliedschaft langsam in den Status des Rosinenpickens übergehen zu lassen, für den das Vereinigte Königreich so kritisiert wurde bzw wird. Zugleich mangelt es an der britischen Ehrlichkeit, den Unwillen, an einer ever closer union in bestimmten Bereichen mitzuwirken, auch nach außen zu tragen.
Auch Ausgaben von 2,0% garantieren keine Verteidigungsfähigkeit
Als Reaktion auf die Feststellung, dass Deutschland seinen Versprechen im Bereich der Verteidigung nicht nachkommt, wird häufig angeführt, dass Ausgaben im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit eingerechnet werden sollten. Dann würde die Bundesrepublik das Zweiprozentziel rechnerisch übertreffen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine sehr kreative Herangehensweise an das “3 C”-Konzept der Lastenteilung (cash, capabilities, contributions / Geldmittel, Fähigkeiten, Beiträge) – es handelt sich auch um eine falsche.
Nicht nur berücksichtigt diese Sichtweise nicht, dass es in Deutschlands ureigenem Interesse liegt, über eine Bundeswehr zu verfügen, die in der Lage ist, den Verteidigungsauftrag nach Art. 87a GG zu erfüllen – sie öffnet auch einer Herangehensweise Tür und Tor, nach welcher Mitgliedstaaten einfach die Erfüllung des Zweiprozentziels verkünden und geflissentlich darüber hinwegsehen, dass ein Gutteil des Verteidigungsmaterials unbrauchbar ist. Rascher können Treu und Glaube nicht über Bord geworfen werden.
Zudem stellte es keine Überraschung für Deutschland dar, mit diesem Ziel konfrontiert zu werden. Schon 2002 einigten sich die NATO-Staaten darauf, ihre Verteidigungsaufwendungen auf 2,0% zu erhöhen.
Kritik am Zweiprozentziel ist der falsche Weg
Als Unterstützer eines erhöhten Verteidigungsetats könnte man sich nun tagein, tagaus auf die Abschlusserklärung des Gipfeltreffens in Wales beziehen und darauf hinweisen, dass Versprechen eingehalten werden müssen. Wir könnten aber auch einen anderen Weg einschlagen und uns fragen, ob eine Herangehensweise, in der Deutschland sich auf das zweite “C”, die capabilities – oder Fähigkeiten – fokussiert, dazu führen würde, dass das Land seinen Zusagen nachkommt.
Wie steht es also um die Mobilität der Streitkräfte und die Fähigkeit, NATO-Streitkräfte rasch Deutschland durchqueren zu lassen, damit diese ihren entsprechenden Einsatzort erreichen können? Vier Monate waren notwendig, um deutsche Bahnwaggons zu finden, auf welchen US-amerikanisches Equipment aus Bulgarien zurück nach Deutschland geschafft werden konnte. Wie sieht es mit dem “Four Thirties”-Konzept aus, nach welchem NATO-Staaten in der Lage sein sollen, binnen dreißig Tagen etwa dreißig Bataillons in eine Gefechtszone zu verlegen? Nach einer Studie der RAND Corporation verfügt Deutschland über zwei Bataillons mit der erforderlichen modernen Ausrüstung, um sie Russland gegenüberzustellen. Die Mobilmachung eines Bataillons würde eine Woche oder länger dauern – ganz abgesehen von der Herausforderung, dieses im Anschluss an seinen Einsatzort zu verlegen.
Unabhängig davon, ob Deutschland sich am Zweiprozentziel, dem verwässerten Ziel von 1,5% oder einem nützlichen Beitrag am Four-Thirties-Konzept orientieren möchte, ist das Land aktuell nicht in der Lage, auch nur eine einzige dieser Zusagen zu erfüllen. Dass in einer solchen Situation das Zweiprozentziel unter Beschuss genommen wird, muss deutschen Verbündeten grotesk erscheinen.
Ist Landesverteidigung zum Tabuthema geworden?
Anstatt zu fragen, weshalb die US-Amerikaner zunehmend unzufrieden auf die deutsche Herangehensweise in der Verteidigungspolitik reagieren, kritisiert ein Teil der Bevölkerung genau diese Unzufriedenheit, auf die der US-Botschafter eingeht. Wie kann er es denn bloß wagen, sich in innenpolitische Angelegenheiten einzumischen?
Indem Deutschland als NATO-Mitglied anderen Mitgliedstaaten Beistand zusichert, so dieser notwendig wird, wird die innenpolitische Angelegenheit Landesverteidigung zur bündnispolitischen Causa, an deren Verlauf auch andere Staaten legitimes Interesse haben. Es überrascht nicht, dass 63% der Deutschen der NATO wohlwollend gegenüberstehen, während 53% finden, dass Deutschland keine militärische Hilfe leisten sollte, wenn ein Mitgliedstaat durch Russland angegriffen werden sollte. Eine Mehrheit der Deutschen möchte die Vorteile der NATO-Mitgliedschaft für sich beanspruchen, zugleich soll der eigene Beitrag zum Bündnis so gering wie möglich ausfallen.
Ein Grund hierfür kann natürlich sein, dass die Vereinigten Staaten für größere Militäraufwendungen werben. Auf dieses Werben reagieren deutsche Politiker regelmäßig damit, dass sie Verteidigungsausgaben mit der Präsidentschaft Trump verknüpfen – auf diese Weise soll dargelegt werden, dass jeder zusätzlich ausgegebene Euro implizieren würde, dass der Präsident Recht hätte. Ungeachtet dessen, dass dieses Argument verkennt, dass Deutschland ebenso Verantwortung für die Souveränität seiner Bündnispartner trägt, muss ihm dennoch begegnet werden, so Deutschland seinem fairen Anteil näher kommen soll.
Die Vereinigten Staaten lassen Europa nicht hängen
Während die Vereinigten Staaten also seit mehr als einem Jahrzehnt darauf hinwirken, dass Europa seinen fairen Anteil an der Bündnisverteidigung tragen solle, so werden sie Europa nicht hängen lassen. In den USA ist der Rückhalt für die NATO-Mitgliedschaft höher als in Deutschland – und zwei Drittel der US-Amerikaner befürworten militärische Unterstützung für Alliierte, die angegriffen werden. Dessen ungeachtet verschiebt der deutsche Unwille, auf berechtigte Einwürfe zu reagieren, das Zentrum der amerikanischen Aufmerksamkeit ostwärts.
Denn während eine wachsende Anzahl Staaten ihren verteidigungspolitischen Versprechen nachkommen wird, findet Deutschland sich zunehmend von seinen Verbündeten isoliert – insbesondere von den europäischen Partnern, die darauf gehofft hatten, dass Deutschland die Versprechen aus 2002 und 2014 in die Tat umsetzen würde. Was aber steht für Deutschland auf dem Spiel, wenn die US-amerikanische Verteidigungsgarantie erhalten und die amerikanische Präsenz unverändert bleibt?
Die gesamte transatlantische Partnerschaft ist in Gefahr. Versprechen nicht einzuhalten, ist die eine Sache – doch letztlich ist es die Weigerung, die bedeutenden Aufwendungen, die ein Partner unternimmt, anzuerkennen, die die Säulen der Partnerschaft, auf denen Europa nach 1945 wieder aufgebaut wurde, erodieren lässt. Möchte Deutschland als starker Akteur in einer Welt des Multilateralismus handeln, so muss es diese Säulen erneuern helfen.
Die Vereinigten Staaten leisten ihren Teil, indem sie mehr als 3,5% ihres BIP für Verteidigungsaufgaben aufwenden – und auch wenn große Teile der ausgegebenen Gelder sich nicht direkt auf Verteidigungsmittel auf europäischem Boden auswirken, sind US-amerikanische Beiträge zur Sicherheit in Asien für Europa genauso bedeutend. Es liegt im Interesse Europas, einen westlichen Partner zu haben, der für Rechtsstaatlichkeit einsteht in einer Region, in der eine Autokratie zunehmend deutlich ihre Nachbarn zu unterwerfen sucht.
Welche Alternative gibt es?
Während eine konfrontative Herangehensweise in Deutschland an Zustimmung gewinnt, stellt sich die Frage: Welche Alternative gibt es zum US-amerikanischen Beitrag zur deutschen Sicherheit? Wer stellt nukleare Abschreckung sicher? Wie viel mehr als 2,0% des BIP würden herangezogen werden müssen, um den Abzug von 32.000 US-Amerikanern und deren Kampfwert zu kompensieren?
Die Alternative zu 2,0% ist nicht 1,25% – vielmehr liegt die Zahl weit über 2,0%. Dass die Mehrheit der Deutschen die NATO unterstützt, sollte der deutschen Politik den Mut geben, sich für das Aufwenden eines objektiv fairen Anteils auszusprechen. Jede Alternative hierzu würde die Beziehung zwischen Deutschland und seinem bedeutendsten verteidigungspolitischen Partner weiter verschlechtern – und würde unweigerlich die Frage aufwerfen, wie nukleare Abschreckung sichergestellt werden kann zu Beginn eines Zeitalters, in welchem Mittelstreckenraketen wieder eine Sache der Gegenwart werden.
Bildquelle: U.S. Department of State
Lukas Posch ist der Vorsitzende der Initiative junger Transatlantiker e.V. – dieser Beitrag stellt eine persönliche Meinung dar und stimmt nicht zwingend mit der Meinung der Initiative überein.